Cancel Culture
Gerechtigkeit, die Leben zerstört
Cancel Culture – ein Phänomen bei dem kollektiv dazu aufgerufen wird, eine Person oder eine Organisation aufgrund einer vermeintlich kontroversen Handlung, Äußerung oder Überzeugung zu boykottieren. Aber wie kann es überhaupt in einer meinungsoffenen Gesellschaft dazu kommen?
Auch wenn man der Cancel Culture keinen genauen Stichtag geben kann, wird ihr Anfang mit der Me-too-Bewegung gleichgesetzt. Damals im Jahr 2017 war das Ganze aber noch weniger extrem. Wurde jemand gecancelt, wurde diese Person nicht gleich aus der Gesellschaft verbannt und musste bis an ihr Lebensende in der Schäm-Dich-Ecke stehen. Es glich eher einem Shitstorm, der sich innerhalb von ein paar Wochen bis Monaten wieder legte. Doch dann kam die Pandemie und viele Leute hatten viel zu viel Langeweile und viel zu viel Zeit, um in den Sozialen Netzwerken ihr Unwesen zu treiben. Plötzlich wurde aus dem lauen Sommerlüftchen ein gewaltiges Gewitter, bei dem es von Vorwürfen und halbwahren, schlecht recherchierten Fakten nur so blitzte und donnerte
Negative Entwicklung durch Soziale Medien
Jetzt fragt ihr euch sicherlich, was die Sozialen Medien damit zu tun haben. Warum sollen sie daran schuld sein, dass sich die Meinungen immer mehr ins Extreme verlagern konnten?
Naja, wenn ihr auf Instagram, Twitter und Co. unterwegs seid, dann seid ihr meistens in sogenannte Bubbles eingesperrt. Ihr könnt euch das vorstellen wie einen großen Raum. In diesem Raum befinden sich alle Leute, die dieselben Meinungen und Interessen haben wie du. In einem anderen Raum sind alle Leute, die die exakt entgegengesetzte Meinung wie du vertreten. Es ist selbstverständlich, dass, wenn du jetzt immer mit denselben Leuten über dieselben Themen redest und ihr keine Ahnung habt, was in dem anderen Raum passiert, irgendwann nach dem Stille-Post-Prinzip die wildesten und unmöglichsten Gerüchte entstehen. Wenn ihr jetzt auf die anderen trefft, dann werden all die Gerüchte auf beiden Seiten als Vorwürfe gegen die andere Seite ausgesprochen und dann habt ihr Cancel Culture.
Wenn jetzt zusätzlich noch die Anonymität im Internet hinzukommt und keiner weiß, wer ihr seid, dann gibt es nicht einmal mehr einen Grund für euch, zurückhaltend oder vorsichtig zu sein, in dem, was ihr sagt.
Das Problem
Aber was ist jetzt das Problem mit Cancel Culture? Es ist doch im Grunde nur ein Weg für Minderheiten, Gerechtigkeit zu erkämpfen, nach dem sie jahrelang nicht die Option hatten, sich Gehör zu verschaffen. Das Problem dabei ist aber, dass nicht das Vorurteil geächtet wird, sondern die Person, die das Vorurteil geäußert hat. Und „geächtet“ ist dabei noch eine massive Untertreibung. Die komplette Karriere der Person kann mehr oder weniger ruiniert sein, nachdem das Internet mit ihr fertig ist.
Als Beispiel könnte man Johnny Depp anbringen. Vor drei Jahren war er allseits beliebt und man hätte ihn sich nicht aus Filmen wie „Fluch der Karibik“ oder „Charlie und die Schokoladenfabrik“ wegdenken können. Doch dann kamen die Missbrauchsvorwürfe von Amber Heard. Und bevor noch irgendetwas entschieden war, geschweige denn bewiesen, kamen die Shitstorms und Annahmen. Er wurde aus Filmen gestrichen und ist mehr oder weniger aus Hollywood verschwunden. Letztes Jahr gewann schließlich jedoch Depp die Gerichtsverhandlung gegen Heard und viele der Vorwürfe waren somit zumindest teilweise als unwahr entlarvt.
Dieses Beispiel zeigt auch, dass die Medien oft zu voreilig handeln und schnell das Erstbeste, ohne fundierte Recherche als die absolute Wahrheit anzunehmen und einfach mal posten. Was dann die Folgen daraus sind und was die jeweils andere Seite dazu sagt, ist dabei komplett egal.
Ein weiteres Problem ist, dass das Internet niemals vergisst. Dabei interessiert es niemanden, wie lange eine gewisse Aussage her ist. Als der Schauspieler und Comedian Kevin Hart 2019 die Oskars moderieren sollte, fanden User Tweets des Comedians mit homophoben Äußerungen aus den 2000er Jahren. Selbst nachdem er als Moderator zurückgetreten war und sich mehrmals entschuldigt hatte, warfen Leute ihm immer noch vor, homophob zu sein. Kevin Hart ist nur eines der unzähligen Beispiele von uralten Tweets, die in die Gegenwart gezogen wurden, nur um Personen noch nach Jahren zu verurteilen. Das Internet scheint einfach nicht akzeptieren zu können, dass Personen sich über Jahre hinweg auch ändern können.
Was kann man verbessern?
Dass die genannten Beispiele alle aus den USA kommen, haben den einfachen Grund, dass dort einiges deutlich extremer ist als hier in Deutschland. Das heißt jetzt nicht, dass es in Deutschland keine Cancel Culture gibt. Das gibt es durchaus und es entwickelt sich auch in dieselbe Richtung wie in den USA, aber wir können es noch ändern. Was können wir tun, um kein Leben zu ruinieren, nur weil uns was nicht zu 100% passt? Kurz gesagt: Nachdenken!
Es gibt oft Situationen und Aussagen, in denen es gerechtfertigt ist, der Person oder Organisation mal ordentlich die Meinung zu geigen. Aber bitte recherchiert ordentlich, bevor ihr eure Rache auf die Person loslasst. Sind die Aussagen bewiesen? Und wenn ja, sind die Beweise wirklich glaubwürdig?
Was sagt die betroffene Person oder Organisation selbst dazu? (Natürlich sind Betroffene tendenziell voreingenommen, aber hör dir trotzdem ihre Seite der Diskussion an und versuche dabei möglichst unvoreingenommen zu sein. Das ist zwar alles andere als einfach, aber bei einer richtigen Recherche absolut notwendig.) Und zu guter Letzt: Ihr kennt nie die ganze Geschichte! Ihr wisst nie, was die betroffene Person zu diesem Zeitpunkt privat durchmacht oder was der Hintergrund für ihr Vorurteil ist. Also bedenkt, dass selbst Promis auch nur Menschen sind, die Fehler machen, beeinflusst werden können und Gefühle haben.
Natürlich kann man nicht einfach diskriminierende Aussagen unangefochten in der Öffentlichkeit rumschweben lassen und man soll in jedem Fall für Gerechtigkeit und Akzeptanz kämpfen, aber das sollte trotzdem zivilisiert ablaufen. Denkt nach, bevor ihr das nächste Mal einen Hate-Kommentar losschickt, egal ob im Internet oder im echten Leben.
Von Lea Wolfgruber