Rechtsruck in Europa
Quo vadis Europa? – Italien auf dem Prüfstand
Im Jahr 2022 jährt sich der Marsch auf Rom, der den Aufstieg des Faschismus in Italien einleitete, und wirft einen langen Schatten auf die gegenwärtige Politik des Landes. Giorgia Meloni, die Vorsitzende der als postfaschistisch geltenden Partei Fratelli d’Italia, führt Italien an einen Scheideweg.
Wir schreiben das Jahr 2022. Hundert Jahre sind vergangen, seit der sogenannte Marsch auf Rom einen Meilenstein für die Etablierung eines faschistischen Systems in Europa setzte. Dieser Marsch, eine koordinierte Erhebung aus verschiedenen Regionen Italiens, hatte die Hauptstadt Rom zum Ziel. Auf der einen Seite standen die Faschisten unter Benito Mussolini, auf der anderen Seite die Monarchisten unter König Vittorio Emanuele III. Um einen drohenden Bürgerkrieg zu verhindern, verzichtete der Monarch auf die Durchsetzung seiner Macht und bereitete so den Weg für Mussolinis Aufstieg. Dies markierte den Beginn einer faschistischen Herrschaft, die später in einem Bündnis mit dem nationalsozialistischen Deutschland und im Zweiten Weltkrieg gipfelte.
Nach der Befreiung Italiens durch die alliierten Streitkräfte 1943 und dem Zusammenbruch Deutschlands 1945 unterschied sich die Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit zwischen den beiden Ländern erheblich. Während in Deutschland die sogenannte Entnazifizierung begann, wurde in Italien die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Regimes weitgehend vermieden. Während führende Nationalsozialisten in den Nürnberger Prozessen zur Rechenschaft gezogen wurden, blieb Italien ein vergleichbarer juristischer und gesellschaftlicher Prozess erspart. Dieser fehlende Bruch mit der Vergangenheit prägt das politische Klima Italiens bis heute.
Ein aktuelles Beispiel hierfür ist die Parlamentswahl im September 2022, die Giorgia Meloni an die Spitze des Landes brachte. Meloni, Vorsitzende der als postfaschistisch geltenden Partei Fratelli d’Italia, trägt eine politische Vergangenheit mit sich, die oft kontrovers diskutiert wird. Ihre frühere Zugehörigkeit zur Partei Movimento Sociale Italiano, die als Nachfolgeorganisation der Mussolini-nahen Republikanischen Faschisten gilt, sowie ihre offenen Sympathiebekundungen für Mussolini in jungen Jahren werfen einen Schatten auf ihre politische Karriere.
Die europäische Flagge
Doch welche Auswirkungen hat dieser Wandel für Europa und insbesondere die Europäische Union? Vor Melonis Amtsantritt wurden düstere Prognosen geäußert: Ein EU-kritischer Kurs, eine Blockadehaltung in Brüssel und Spannungen innerhalb der europäischen Staatengemeinschaft wurden befürchtet. Doch diese Szenarien traten bislang nicht ein. Stattdessen verfolgt Meloni, wie die Süddeutsche Zeitung berichtete, einen „pragmatisch-kooperativen Europakurs“. Sie positioniert sich als Verfechterin nationaler Interessen, ohne jedoch die grundlegende Zusammenarbeit innerhalb der EU zu gefährden.
Auf nationaler Ebene zeigt sich hingegen eine andere Facette ihrer Politik, insbesondere in den Bereichen Migration, gesellschaftliche Werte und soziale Rechte. Als Mittelmeerland ist Italien seit Jahrzehnten ein Brennpunkt der europäischen Flüchtlingskrise. Meloni hat einen strikten Kurs eingeschlagen, der vorsieht, Migranten in sogenannte Außenlager, etwa nach Albanien, auszuweisen. Dieses Vorhaben stieß nicht nur auf scharfe Kritik von Menschenrechtsorganisationen, sondern wurde auch vom Europäischen Gerichtshof als unvereinbar mit den Grundrechten bewertet. Infolgedessen musste das Projekt eingestellt werden, und bereits verlegte Migranten wurden nach Italien zurückgebracht.
Neben ihrer restriktiven Migrationspolitik steht Meloni für konservative Werte in Fragen von Familie und Gesellschaft. Sie hat die Rechte homosexueller Eltern beschnitten und damit nicht nur die LGBTQ-Community, sondern auch internationale Beobachter alarmiert. Gleichzeitig überrascht sie jedoch in anderen Bereichen: Entgegen der Annahme, dass sie die Abtreibungsgesetze verschärfen würde, setzte sie auf den Ausbau von Beratungsangeboten für Frauen, die auch Unterstützung bei Schwangerschaftsabbrüchen anbieten. Dieser Schritt zeigt, dass Melonis Regierung zwar in vielen Punkten antiliberale Züge trägt, jedoch auch pragmatische Entscheidungen trifft, die über ideologische Grenzen hinausgehen.
Italien steht unter Giorgia Melonis Führung an einem Scheideweg. Mit der Fratelli d’Italia ist eine Partei an der Macht, die zwar postfaschistische Wurzeln hat, jedoch eine Politik verfolgt, die nicht nur auf Konfrontation setzt. Auf europäischer Ebene wirkt Meloni bislang stabilisierend, während ihre Innenpolitik oft scharf kritisiert wird. Wie sich dieser politische Wandel langfristig auf Europa und Deutschland auswirken wird, bleibt abzuwarten. Sicher ist nur, dass Italien erneut eine zentrale Rolle in den Debatten um die Zukunft Europas spielt.
Die kommenden Jahre werden zeigen, ob der „rechte Weg“, den Meloni eingeschlagen hat, zu einer dauerhaften politischen Neuausrichtung in Italien führen wird – und welche Folgen dies für das europäische Projekt hat.
Von Kilian Bernauer