Maria Stuart
Die blosse Macht, sei sie auch noch so furchtbar und grenzenlos, kann nie Majestät verleihen
Friedrich Schillers „Maria Stuart“ mag auf den ersten Blick wie ein unscheinbares Drama erscheinen. Welche zeitlosen Fragen zu Geschlechtergerechtigkeit und Machtverhältnissen wirft dieses Werk auf, und warum ist es heute relevanter denn je?
Ein Schreckgespenst geht um in der Q12. Mit seinem auffällig roten Einband, der skizzenhaften Darstellung zweier Damen in viktorianisch anmutenden Kleidern und nicht einmal 150 Seiten wirkt es zunächst recht unscheinbar und harmlos. Spätestens jedoch beim Namen des Autors legt sich so manche Stirn in Falten: Friedrich von Schiller. Aber es handelt sich nicht um irgendein Werk. Nein, die Rede ist von einem der bedeutendsten Werke der Deutschen Klassik: „Maria Stuart“. In seinem Drama lässt Schiller die schottische König Maria, die kurz vor ihrer Hinrichtung steht, mit ihrer Cousine Elisabeth, der Königin von England, zusammentreffen. Ein Ereignis, das historisch so nie passiert ist, in Schillers Version aber von zentraler Bedeutung ist und tief blicken lässt. Denn abgesehen von politischer Strategie, Intrigen und Macht spielt der wohl offensichtlichste Faktor eine entscheidende Rolle: die Protagonisten sind Frauen. Für das 19. Jahrhundert doch eher ungewöhnlich. Umso spannender ist es hervorzuheben, wie viele Parallelen sich zu heutigen politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen ziehen lassen, wie fortschrittlich ein solches Werk für die damalige Zeit war und das alles, obwohl es von einem Mann stammt, dessen Umfeld patriarchaler geprägt nicht hätte sein können. Es steckt mehr hinter Maria Stuart als Figurenkonstellationen, Szenenanalysen und Deutungshypothesen.
„Maria und Elisabeth sind jedoch das Zentrum einer übergreifenden Machtstruktur in einer von Männern dominierten Welt und kämpfen um Macht und Souveränität.“
Angefangen mit zwei Frauen in Machtpositionen. In der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts nahmen Frauen gewöhnlich klassische Rollen als oberflächliche Geliebte, hilfloses Opfer oder böswillige Strippenzieherin im Hintergrund ein. Maria und Elisabeth sind jedoch das Zentrum einer übergreifenden Machtstruktur in einer von Männern dominierten Welt und kämpfen um Macht und Souveränität. Wie schwer ihnen das tatsächlich fällt, wird durch die charakterliche Komplexität und emotionale Tiefe, die Schiller ihnen verleiht, deutlich. So ist Maria nicht nur eine wehrlose, leidende Gefangene im fremden Land, sondern immer noch eine einflussreiche Königin, der ihre Fehler und ihr Stolz zum Verhängnis wurden. Elisabeth hingegen ist emotional aufgewühlt und mit ihrer Macht allein gelassen, sie ist eine Gefangene von politischer Verantwortung und persönlicher Unsicherheiten. So kreiert Schiller ein komplexes Bild mit einer tiefgreifenden psychologischen Dimension, was die Realität von Frauen in Führungspositionen eingehend und realitätsgetreu darstellt, damals wie heute. Hinzukommt der ständige Einfluss patriarchaler Strukturen, verkörpert durch Elisabeths Berater, Angestellte, diverse Könige und nicht zuletzt den Papst. Durch die Konfrontation mit deren Misstrauen und Verlangen nach Kontrolle werden Elisabeths und Marias Macht und Führungsqualitäten konstant in Frage gestellt, weshalb sie sich in einem konstanten Kampf gegen Männer, die über ihr Schicksal entscheiden wollen, in ihren Rollen als Herrscherinnen behaupten müssen. Nicht viel anders ist die Situation in der heutigen Arbeitswelt, wo nur selten Frauen Führungspositionen innehaben und im Vergleich zu Männern massiven Benachteiligungen ausgesetzt sind. So greift Schiller die Frage nach weiblicher Souveränität in der Politik auf, und eröffnet somit eine für die damalige Zeit sehr fortschrittliche Perspektive auf das Thema. Obwohl er eher als zurückhaltende und schüchterne Persönlichkeit galt, mangelte es ihm in keiner Weise an Empathie, was seine Fähigkeit, sich in weibliche Figuren hineinzuversetzen, zeigt. Sein tiefes Verständnis für Marias und Elisabeths Situationen und die komplexe Darstellung ihrer emotionalen Situation zeugt von Progressivität und außergewöhnlichem Einfühlungsvermögen, was ihn sicherlich von vielen seiner männlichen Zeitgenossen abhob. Dieser Fürsorge seinen Figuren gegenüber ist es zu verdanken, dass Maria und Elisabeth sich nicht schlicht in das klassische Schema von Gut und Böse einteilen lassen. Maria ist nicht einfach das schuldlose Opfer ihrer Situation oder die verurteilte Verbrecherin. Sie ist vielschichtig, übernimmt für ihre Fehler Verantwortung und leidet gleichzeitig unter ihrer Gefangenschaft. Ebenso ist Elisabeth nicht einfach die „böse Königin“, die gierig nach Macht Maria gefangen hält. Sie kämpft mit ihrer verantwortungsvollen Position und ihren Emotionen, wobei es um mehr als nur politisches Kalkül geht. Beide Frauen sind, in verschiedenen Hinsichten, sowohl Opfer als auch Täter im Kampf um Vergebung und Würde.
„Aufgrund all dieser Aspekte ist es nachvollziehbar, Schillers ,Maria Stuart’ als frühes Beispiel für einen feministischen Ansatz zu betrachten.“
Aufgrund all dieser Aspekte ist es nachvollziehbar, Schillers „Maria Stuart“ als frühes Beispiel für einen feministischen Ansatz zu betrachten. Die angesprochenen Themen sind trotz über 200 Jahren Zeitunterschied aktueller denn je und liefern Denkanstöße bezüglich Erwartungshaltungen, Geschlechterrollen und struktureller Diskriminierung. Auch wenn die Lektüre auf den ersten Blick mit ihrer veralteten Sprache und der in Aussicht gestellten Dramenanalyse nicht attraktiv wirken mag, lohnt es sich doch, sich genauer damit zu beschäftigen, um diese wichtigen gesellschaftlichen Themen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. So trifft Schiller auch heute noch mit seiner bemerkenswerten Arbeit den Geist der Zeit und sorgt für eine erfrischend neue Perspektive unter all den gleich anmutenden Werken der Weimarer Klassik. Möglicherweise sollten auch wir eine solche Perspektive auf klassische Literatur zulassen, um am Geist der Zeit zu bleiben und so eine gesellschaftliche Weiterentwicklung für mehr Toleranz und Gerechtigkeit zu ermöglichen.
Von Stella Schindlbeck