Essay

Die 1er Schüler, die 2er Schüler und die anderen

Noten: Wer kennt sie nicht, die Situation, in der man vor der Herausgabe eines Leistungsnachweises ängstlich auf das Ergebnis seiner Arbeit wartet? Aber müssen dieser Druck und dieser Stress überhaupt sein? Stefan Wallner setzt sich kritisch mit dieser Frage auseinander und erklärt in seinem Essay, was Noten für ihn bedeuten.

Als Schüler werden einem im Verlaufe seiner Gymnasialkarriere diverse Gräuel angetan, die ziemlich sicher von der Genfer-Konvention verboten sein sollten. Angefangen bei französischer Aussprache (ungeheuerlich), über alles, was in Mathe nach der 7.Klasse kommt (zutiefst traumatisch), bis hin zu Epikanalysen (alptraumhaft). Natürlich gibt es hier manche, die behaupten, dass eben diese Themen ganz toll und ganz und gar fabelhaft sind, aber ich glaube auch die Freaks unter uns können sich auf eine Sache einigen: Das Anschreiben von Noten an die Tafel beim Herausgeben von Tests aller Art ist ziemlich sicher eine Verletzung von Artikel 5 der Menschenrechte („Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“). Man ist ohnehin schon komplett fertig mit den Nerven und dann wird auch noch die Notenverteilung an die Tafel geschrieben.

Und dann beginnt es. Zuerst überlegt man sich, in welchem Notenbereich man denn selbst steht (man ist niemals in diesem Notenbereich, aber man kann‘s ja mal versuchen). Dann fängt der eigentlich harte Teil an. Man versucht anhand der Reaktionen der Mitschüler abzuzählen, wer welche Note hat und welche dann noch übrig bleiben. Hier sind die Schüler, die hinten im Alphabet stehen, meistens irgendwann so dermaßen fertig mit den Nerven und der Welt, dass man noch mehr als üblicherweise das Gefühl bekommt, es handelt sich hier um ein Irrenhaus und nicht um die Bildungselite.

Im Endeffekt hat man eigentlich nie die Note, die man sich gerade ausgerechnet hat. Im Endeffekt sind unsere Noten allgemein ein wenig kontrovers. Ein wenig kontrovers steht hier übrigens für komplett rückständig. Noten erfüllen ihren Auftrag in etwa so gut, wie die Lehrpläne ihren Auftrag erfüllen, gute und realistisch eingeteilte Vorlagen für den Unterricht zu sein. (Irgendwie ist man schon am ersten Schultag mit dem Stoff hinterher). Es gibt viele Probleme mit Noten. Eines der größten ist die Tatsache, dass man Noten (und damit auch den Lehrer*innen) absolute und unumstößliche Objektivität unterstellt. Aber Objektivität ist wie der Wunderweg, um über Nacht in vier einfachen Schritten Millionär zu werden. Viele behaupten es zu haben, aber in Wahrheit existiert es nicht. Es ist einfach nur unfair, diese Objektivität anzunehmen. Es ist unfair den Lehrer*innen gegenüber, weil man ihnen zuschreibt, sämtliche Gefühle abzulegen und mehr als Maschinen als als Menschen zu funktionieren. Und irgendwann macht man auch als Schüler die Erfahrung, dass Lehrer*innen auch Menschen sind (Was?). Mit eigenem Leben abseits von Schule (Oha). In der sie ganz normale Dinge machen wie Einkaufen (Unfassbar). Und in der auch sie nicht von der allumfassenden Macht der Emotionen und Empathie gefeit sind, die unser alltägliches Leben beeinflusst. Am Ende bewerten Sympathien eben doch mit und eine unabhängige Leistungsbewertung ist und bleibt eine „Utopie“.

Wer das aber nun als Ausrede nimmt, um sämtliche seiner Leistungen zu rechtfertigen, stellt nur unter Beweis, dass er von dem Gesagten keine Ahnung hat. Nur weil Empathie auch in die Notengebung mit reinspielt ist sie noch lange keine Ausrede, Lehrer*innen wissen schließlich auch, was sie da tun. Außerdem hat sich komplett unerwartet und überraschend herausgestellt, dass wer nett und freundlich ist und wer so gut er kann im Unterricht mitarbeitet als sympathisch gilt. Erschütternd, ich weiß. Und dann kommt das noch viel größere Problem: Noten bilden nicht mal ansatzweise die Realität ab, so wie sie ist. Denn bei Noten geht es nicht um das Können des Schülers im Fach. Also ja auch. Je nachdem bei welchem Schüler zwischen 5% und 90%. Es spielen so viel mehr Dinge in die Note rein als das reine Können. Tagesform ist hier der Klassiker. Ja es gibt einfach Tage, an denen sowieso nichts hinhaut und dann wird die Prüfung auch nicht hinhauen. Aber das ist nur eine von vielen Möglichkeiten, wer jetzt zum Beispiel auch einfach daheim Probleme hat und wer jeden Tag darüber nachdenken muss, wie man dem Zorn der Eltern entgeht, der wird auch nicht die Kapazitäten haben, sich auf den Test zu konzentrieren, egal wie sehr er sich anstrengt und wie viel er lernt. Aber das meiner Erfahrung nach mit Abstand am häufigsten vorkommende Problem ist, wenn Schüler unter dem Druck der Noten zusammenbrechen. Sie hatten vielleicht mal tatsächlich Probleme in diesem Fach und hatten damals vor allem schlechte Noten, aber durch das Jahr für Jahr eingeflößte „Ich kann in Fach XY eh nichts“-Mantra wird irgendwann ein „Ich kann in der Schule eh nichts“-Mantra und in manchen Fällen auch ein „Ich kann eh nichts“-Mantra. Und bei diesen Schülern handelt es sich oftmals um intelligente, ehrgeizige Schüler, die jeden Tag lernen und fleißiger sind als viele der „im Vorbeigehen ne 1 bekommenden“-Schüler und die dadurch auch ein echtes Können entwickelt haben, das ihnen eigentlich die verdienten Noten bringen sollten. Leider sind sie so tief in ihrer „Ich werde versagen“-Einstellung gefangen, dass es effektiv egal ist, wie viel sie können und gelernt haben, durch ihre fanatische Überzeugung über die eigene Unfähigkeit wird jede Note automatisch zu einer weiteren Enttäuschung, die sie tiefer in ihre Selbststigmatisierung treibt.

Und so hatte ich in meiner Funktion als Nachhilfelehrer nicht wenige Schüler, die keinen Nachhilfelehrer brauchten, sondern einen Coach der sie wieder von sich selbst überzeugt. Sie sind ein trauriges Beispiel für den Satz „Gewinnen fängt im Kopf an“, denn Verlieren tut es auch. Aber Noten geben nicht nur eine unvollständige Aussage über die Fähigkeiten eines Schülers in einem speziellen Fach, allgemein schreibt man ihnen zu viel Aussagekraft über die Schüler zu. Denn wer schlechte Noten hat, der ist faul und dumm, sonst hätte er keine schlechten Noten. Das weiß schließlich jeder. In Anbetracht der vorherigen Kenntnisse muss man wohl eher sagen: Wer an sich kein Können in der Schule besitzt, ist einfach faul und dumm, das weiß doch jeder. Ich glaube, der geneigte Leser kann sich denken, was ich über diese Aussage denke, aber auch ich bemerke selbst, dass ich manchmal so denke, egal wie sehr ich eigentlich dagegen bin. Denn die Wahrheit ist, dass Schulnoten sehr wenig über die Fähigkeit einer Person aussagen. Denn schließlich prüfen Schulfächer nur gewisse Teile von gewissen Disziplinen ab, bei denen nun mal nicht jeder gut ist, aber trotzdem kenne ich begnadete Zeichner und Musiker, oder auch nur intellektuell hochgebildete Menschen, mit allemal mittelguten Noten. Sind sie dadurch schlecht und faul? Nein, es hat sich nur herausgestellt, dass eben nicht jeder den Passatkreislauf so super findet, wie die Leute, die sich entschlossen haben, ihn ungefähr zehnmal in den Lehrplan zu packen. Bei 12 Jahren Schule vergisst man schnell mal, dass es auch andere Bereiche gibt, in denen man gut sein kann, außerhalb von Unterrichtsfächern. Aber Fächerdenken bedeutet eben auch Schubladendenken und wer nicht in eine der 20 Fachschubladen passt, der kommt halt in die Restschublade ganz unten. Die ist inzwischen schon echt voll.

Also bleibt am Ende die Frage: Wieso? Wieso sollte man ein unvollständiges System anwenden, das Noten belohnt, Können aber nur bedingt? Warum sollte man Schüler in Schubladen stecken wollen? Warum existieren Noten, obwohl in zahlreichen Studien ihre Ineffizienz bewiesen wurde? Tatsächlich fällt den meisten Schülern nach dem Abitur auf, wie egal ihre Note eigentlich war und dass sie auch etwas entspannter an die Sache hätten rangehen können. Und dann gibt es die armen Irren, die etwas mit NC studieren wollen und diese bekommen die ganze Freude eines Schulsystems mit, bei dem Abiturabschlüsse nicht mal ansatzweise gleich schwer sind, aber dennoch alle gleich viel gelten. Ja, NCs sind die Hölle. Und hier kann man doch mal eine Lanze für Noten brechen! Hier in den Studienfächern, die nur die Allerbesten brauchen können, hier in den Professionen (Medizin, Psychologie, etc.), in denen nur die Besten bestehen können, hier brauchen wir Noten, um überhaupt zu wissen, wer jetzt gut ist und wer nicht! Ich stelle mir die praktische Umsetzung dieser Begründung ja so vor: Die Stimmung ist angespannt, die Abteilung arbeitet auf Hochtouren. Der Arzt ist noch neu, die Situation ist ernst. Die Operation des Blinddarms muss schnell gehen, bevor es zu einem Durchbruch kommt. Dieser wäre tödlich. Das Schweigen liegt über dem Notoperationsteam wie ein dunkler Schleier. Schnitt für Schnitt arbeitet sich der Arzt vor, die Zeit fliegt und schleicht gleichzeitig. Der Darm bricht durch, die letzte Chance des Arztes das Leben des Patienten zu retten. Die Spannung im Raum ist greifbar, Schweiß bildet sich auf der Stirn des Arztes. Der Arzt schlägt mit der Faust auf den Tisch. Sie haben ihn verloren. Würde er bessere Gedichtanalysen schreiben, wäre das nicht passiert. Was ich damit sagen will: die Dinge, die man für einen guten NC braucht und die Dinge, die man im Studium braucht, sind nur bedingt gleich. Andere Länder haben bereits seit Langem für diese Studiengänge zugeschnittene Zulassungstests, aber vermutlich wäre es zu übertrieben, am Ende ein Studium an den zu vergeben, der am besten in dem tatsächlichen Studium ist, da ist der NC schon viel besser. Also viel besser, schon allein die Argumentation aus ... Dingen. Und bestimmt auch Argumenten. Also sie fallen mir gerade nicht ein, aber irgendwo sind bestimmt welche. Und kommt mir nicht mit „das ist zu viel Aufwand“, bei anderen Ländern funktioniert das mit Eignungstests seit Jahren wunderbar, das einzige Argument, das ich logisch erkennen kann, ist, dass wir ja das noch nie anders hatten. Und das Argument ist eher so meh.

Die aufmerksame Leserschaft wird vermutlich inzwischen bemerkt haben, dass ich nicht so der Notenfan bin. Wem das noch nicht aufgefallen ist: Geh schlafen. Oder ausnüchtern. Gibt es Alternativen? Ja. Viele. Warum gibt es nicht in allen Fächern individuelle Rückmeldungen, wie wir sie bereits in Deutschaufsätzen haben? Ist das wirklich zu viel verlangt? Und das Argument, dass das ja „viel zu viel Zeit koste“, lasse ich nicht gelten. Ich meine Deutschaufsätze sind vermutlich bezüglich der Korrektur die arbeitsaufwändigsten Tests, warum können sich die Naturwissenschaften nicht daran ein Beispiel nehmen, anstatt einfach eine Zahl auszuteilen, auf die sich der Schüler selbst einen Reim machen muss. Am besten wäre es natürlich, Noten ganz abzuschaffen, aber bis das kommt, bin ich vermutlich selbst in Rente. Außerdem höre ich hier schon die Stimmen, die eine Verhätschelungsschule befürchten, bei der der Schüler auf Händen zum Abitur getragen wird. Bei der man ja machen kann, was man will und man wird dafür nicht bestraft. Ich halte es aber auch für ein bisschen übertrieben, ein besseres und faireres Bewertungssystem mit einer Schulverhätschelung gleichzusetzen. Und natürlich hilft das alles nichts bei Schülern, die einfach keinen Bock haben, etwas für die Schule zu tun. Aber inwieweit man denen mit dem jetzigen Notensystem beikommen konnte, ist auch fraglich. Ich spreche mich aber trotzdem dafür aus, dass Schüler „durchfallen“ (ich mag das Wort nicht, ich würde eher sagen, sie bekommen eine zweite Chance). Ich bin davon überzeugt, dass es unverantwortlich wäre, einen Schüler durchkommen zu lassen, damit er im nächsten Jahr dann so richtig versagen kann. Und irgendwann fällt einem auf, dass ein Jahr jetzt wirklich nicht die Welt ist. Und zwei übrigens immer noch nicht.

Aber eigentlich wäre das alles gar nicht nötig. Eigentlich könnten wir Noten hernehmen. Eigentlich ist das alles gar kein Problem, denn das Problem sind nicht nur die Noten. Es ist die Annahme, dass Noten etwas über Können aussagen. Es ist die Annahme, dass Noten etwas über Menschen aussagen. Es ist die Annahme, dass wer schlechte Noten hat, faul und dumm ist, sonst hätte er schließlich keine schlechten Noten. Das weiß doch jeder. Und das ist das Problem. Es wäre alles nicht so schlimm, wenn man den Kindern (und den Eltern) gleich zu Beginn beibringt, was Noten eigentlich sind: Noten sind temporäre Aussagen, über die Fähigkeit des Schülers zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgewählte Fragen zu beantworten, die aber nichts über den Schüler oder sein allgemeines Können aussagen, sondern eher als Momentaufnahmen zu sehen sind und nicht als Lebensdokumentationen. Es gibt so viele verschiedene Faktoren, dass jede engere Definition falsch ist. Wenn Menschen das verstehen würden, dann wäre das alles halb so wild. Deswegen ist mein Appell an alle Schüler, Lehrer und Eltern (und alle anderen, die das hier gerade lesen): Hört auf aus Noten Aussagen zu ziehen, die gar nicht da sind, sondern chillt mal ein bisschen, ok? Danke.

Von Stefan Wallner