Essay
Das ewig Unverstandene
Für einige das Lieblingsfach, für andere dagegen das Hassfach schlechthin: Deutsch. Dem einen liegt dieses Fach einfach, der andere hat seit Jahren mit schlechten Noten zu kämpfen. Der eine lernt durch Deutsch den Sinn des Lebens, für den anderen ist bei einer Gedichtanalyse das Leben manchmal sinnlos. Stefan Wallner zeigt mit seinem Essay, wie er zu dem „ewig unverstandenen“ Fach steht.
Es ist ein viel zu heißer Tag im Sommer letzten Jahres. Das Mädchen am vorderen Ende der Klasse ist gerade mit ihrem Referat fertig geworden. Eine Gedichtanalyse - der Schrecken der Oberstufe. Es war eine gute Analyse. Am hinteren Ende der Klasse wird eine Hand gehoben. „Wieso wirken die weiblichen Kadenzen so?“ Und mein einziger Gedanke ist „Das wird jetzt hart.“ Und ich sollte Recht behalten. Denn wie schon so oft zuvor hat sich hier herausgestellt, dass es erstaunlich schwierig sein kann Schülern die Grundlagen des Faches Deutsch beizubringen. Irgendwann hat man das Gefühl, dass diese Schüler bei Weitem in der Mehrheit sind. Es stellt sich einem irgendwann die Frage „Wieso eigentlich Deutsch?“.
Um das gleich zu Beginn klarzustellen: Ich liebe Deutsch. Ich verbringe nun auch nach der Schule sehr viel Zeit damit und gedenke dies mein restliches Leben zu tun. Unsere Beziehung ist manchmal sehr dominant und manchmal etwas in den Hintergrund geraten, wenn ich gerade mit anderen Liebeleien, wie zum Beispiel der Vorbereitung für das Englischabitur (wenn wir ehrlich sind muss man hier von einer unfreiwilligen Zweckbeziehung sprechen), beschäftigt bin, aber ich kehre stets zu meinem Schatz zurück. Es gibt bei uns die lesenden Zeiten, geprägt von sehr vielem Umblättern und stellenweise einem „Oh“ oder einem „Aha“. Und dann gibt es die Zeiten, die über das Gelesene nachdenken, geprägt von sehr viel „Hmm“ und auch dem „Achso“. Und wenn wir ganz wild sind, treffen wir uns mit anderen Pärchen und tauschen uns aus, was ein wenig so ist wie die Zeiten des Nachdenkens über das Gelesene, nur dass man dabei laut denkt.
Und wie ach so viele Liebesgeschichten hat auch unsere in der Schule angefangen, aber erst in der Oberstufe. Davor kannten wir uns natürlich, aber alles, was sie da interessiert hat, waren Adverbien, Subjektstellungen im Satz oder auch Kommaregeln. Ich konnte das niemals nachvollziehen und auch heute haben wir ab und zu unsere Probleme damit. Also ist allgemein zu sagen, dass meine Leidenschaft für das Fach Deutsch erst spät in meinem Schülerleben entflammte, aber das liegt nicht nur an mir. Denn Deutsch ist dieser eine Mitschüler, der in der Unterstufe noch alles schön nach Vorschrift auswendig gelernt hat und sich dann in der 10. Klasse doch nochmal überlegt hat, dass es irgendwie cooler wäre, alles anders zu machen und dann in irgendeine ganz seltsame Künstlerszene abrutscht und jetzt sein Auswendiglernen für Kreativität eingetauscht hat.
Und zufälligerweise konnte ich mit diesem seltsamen „Benenne das Subjekt des Satzes und setze es dann in den Genitiv“-Streber noch nie was anfangen, aber das Interesse des Künstlers für sämtliche Arten von Literatur und Diskussionen über tiefgründig Philosophisches sagt mir schon eher zu. Diese Meinung teilen aber nicht alle. Natürlich könnte man kritisieren, dass, während Deutsch in den unteren Klassen noch tatsächlich für den Alltag nützliche Dinge beibringt, wie zum Beispiel das Schreiben eines Briefes (Ha, der war gut oder? Wann hast du zuletzt einen Brief geschrieben? Emails und Postkarten zählen nicht), oder auch einfach wie man Deutsch spricht/schreibt, (ja, ich stimme zu: es wäre vermutlich ganz praktisch, wenn die Schüler das könnten), dann irgendwann dieser Punkt kommt, an dem es nicht mehr darum geht, wo ein Komma hinkommt, sondern wie da der Woyzeck in den sozialen Abgrund stürzt. Und ja stimmt, Bücher von vor heute/gestern/vorgestern und auch von vor 200 Jahren sind jetzt nicht mehr ganz die Lebensrealität der heutigen, im 21. Jahrhundert lebenden Gymnasiasten, schließlich werden bei uns tendenziell eher weniger Mädchen von Artemis auf Tauris entführt und auch der Verband der deutschen Räuberbanden meldet einen starken Rückgang der Neubildungen vor allem im studentischen Bereich.
Dass wir in einem naturwissenschaftlich-technologischen und sprachlichen Gymnasium sind und Deutsch zwar definitiv eine Sprache, aber Literatur dann halt doch eher Kunst ist, macht es vermutlich nicht leichter. Natürlich könnte man jetzt sagen, dass Germanistik ja eine Wissenschaft ist, aber ich bitte dich. Germanistik ist eine Wissenschaft, was kommt als Nächstes? Gender Studies als Wissenschaft? Oder am Ende sogar noch Psychologie? Ja, neben Mathematik, Physik, Chemie, Biologie und allem dazwischen ist deutsche Literaturwissenschaft ein bisschen wie dieser eine seltsame Verwandte, für den sich alle anderen in der Familie schämen. Anscheinend hat jede Familie so einen. Ich hab den in meiner noch nicht entdeckt, was mich meine Familienrolle hinterfragen lässt, aber das ist ein anderes Thema. Deutsch ist nun mal keine exakte Wissenschaft. Man rechnet nicht vier Seiten lang, um dann herauszufinden, dass 4*7 gar nicht 36 ist, um dann wieder vier Seiten durchzustreichen.
Man analysiert und interpretiert, wobei oft viele Antworten richtig sind, ABER auch viele Antworten falsch sind. Ein zu großer Prozentsatz der Schüler nimmt das Fehlen eines dogmatischen „Das hier ist die richtige Lösung und nichts anders!“ als ein „Ich kann hier machen was ich will und es muss ja stimmen, solange ich behaupte, dass ich das in den Text hineininterpretiere“. Das ist ungefähr wie wenn man auf „Die Ampel ist jetzt grün“ mit „Ich war noch nie gut in Tennis“ antwortet. Nur weil es verschiedene Auffassungsmöglichkeiten (zum Beispiel „Fahr jetzt los“ oder „Ich will dich darauf hinweisen, dass die Ampel grün ist“) gibt, ist immer noch nicht jede richtig. Und es ist eben die fehlende Exaktheit, die hier auch für Schüler ein Problem darstellt. In den Fächern, in denen manche, wie es aussieht, einfach so ohne irgendwelche Mühen immer gute Noten und Interpretationen liefern, während andere sich fragen, wieso weibliche Kadenzen irgendwie immer anders wirken und wo eigentlich der Unterschied zwischen ihnen und männlichen Kadenzen ist (insofern ihnen dieser Terminus überhaupt geläufig ist), beklagen sich viele darüber, ohnehin nicht wirklich für dieses Fach lernen zu können. Hier muss ich ehrlicherweise zugeben, ja das stimmt. Aber nein, es stimmt überhaupt nicht. Ja stimmt, es gehört sehr viel dazu, konstant gute und richtige Interpretationen zu liefern, und ja, es ist auch korrekt, dass man vor allem im Vergleich zu den anderen Fächern sehr viel Zeit investieren muss, um gute Ergebnisse zu erhalten, und ja es ist auch nicht zu verleugnen, dass diese ewig langen Listen mit stilistischen Fachbegriffen echt besch***** zu lernen sind. Aber Deutsch ist trotzdem kein unlernbares Fach und Lehrer vergeben ihre Noten auch nicht nach Sympathien (nicht mehr als in jedem anderen Fach zumindest). Es gibt natürlich die klassischen Methoden mit ganz vielen ganz tollen Übungsaufsätzen (eine Lernmethode, die ich persönlich wärmstens weiterempfehlen kann), dann kann man auch anfangen ebenjene besonders tollen Listen auswendig zu lernen (aus persönlicher Erfahrung kann ich sagen, dass mit genug Kreativität alles eine Metapher ist), und dann kann man sich auch die Tatsache zunutze machen, dass alle Strömungen ihre Themen hatten und es irgendwie schon so ein paar Standardantworten gibt, die jetzt zwar nicht das Rad neu erfinden, die aber auch keinen Speichenbruch verursachen (vor allem in der Romantik: irgendetwas mit Natur und Schönheit geht immer).
Es gibt viele, die der Meinung sind, dass Deutsch als Fach eher in der unteren Schublade anzusiedeln ist (und auch nicht in demselben Schrank wie die ganzen „richtigen“ Fächer), aber manchmal geschehen eben doch noch Wunder, wie mir ein Freund von mir, den ich aus Charakterisierungsgründen Herr „IchWürdeDeutschGerneAlsFremdspracheEinbringen“ nennen werde, unlängst bewies. Dieser hatte nämlich (leider erst drei Monate nach dem Abitur) die Erkenntnis, dass dieses ganze Gedichtinterpretationszeugs schon irgendwie so ne Art Kunst ist und das ja echt schon ziemlich krass ist. Und ja, damit hat er recht (sage ich jetzt ganz bescheiden). Im Fach Deutsch geht es um Kompetenzen, die normalerweise nicht allzu oft von Schülern gefordert werden. Es geht um Kreativität bei Interpretationen, die aber auch ein vorheriges Textverständnis erfordern, es geht darum, anders zu denken als der Alltag, sich in andere Leute und andere Zeiten hineinzuversetzen, in den Autor und seine Gründe für ein Werk oder eine Formulierung, aber auch für die fiktiven Charaktere, für ihre Gründe und ihre Welten. Man muss bereit sein, seine eigene Komfortzone zu verlassen und sich auf andere Menschen und Welten einzulassen, dann hat man ein Buch auch nicht nur gelesen, sondern dann hat man es verstanden. Und dann muss man auch noch in der Lage sein, das, was dann in dieser fernen Welt, diesen fernen Menschen passiert, auf die eigene nahe Zeit zu beziehen und wenn man das geschafft hat, dann kann man wirklich behaupten, eine Ahnung von Literatur und dem Fach Deutsch zu haben.
Das ist Literatur. Literatur ist nicht nur irgendeine Geschichte, die irgendwer sich irgendwann mal ausgedacht hat und die man jetzt halt lesen muss, weil sich irgendwer irgendwann mal gedacht hat, dass das aus irgendeinem Grund irgendwann mal wichtig war und jetzt den Lehrplan füllen muss. Ein literarisches Werk ist eine Welt, die einem etwas über die Geschichte zu dieser Zeit erzählt, eine Welt, die einem über die soziologischen und historischen Welten aus den verschiedenen geschichtlichen Epochen erzählt. Dann ist Literatur auch eine rein stilistische Welt, eine Welt in der es um Sprache geht, um das Spiel und die Fertigkeit mit ihr, es geht um die Formulierungen und die verwendeten Wörter, es geht um die Kunst des Deutschen. Literatur ist auch eine psychologische Welt, die Welt des Autors. Warum hat sich ein Autor für ein Thema und eine Geschichte entschieden? Warum lässt er die Charaktere auf ihre Art und Weise handeln? Was für eine Person schreibt so eine Geschichte? Was für Beweggründe gibt es für genau diesen Weg, den der Schriftsteller eingeschlagen hat? Und dann gibt es die Welt des Moralischen. Die Schriftsteller wollten etwas bewirken. Ihre Bücher haben eine Aussage und hinter jedem der Autoren steht ein Weltbild und eine Philosophie, diese fließt auch in die Bücher ein. Diese letzte Funktion ist sogar in der bayrischen Verfassung verankert. Artikel 131 besagt, dass „Die Schulen [...] nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden [sollen]“. Gut, auf der anderen Seite steht auch drei Absätze weiter, dass „[d]ie Mädchen und Buben [...] außerdem in der Säuglingspflege, Kindererziehung und Hauswirtschaft besonders zu unterweisen [sind]“, und so gern mein innerer Zyniker auch den sexuellen Präventionsunterricht als diese drei Punkte auffassen würde, glaube ich nicht, dass das damit gemeint ist.
Aber dennoch bleibt die Tatsache, dass der Deutschunterricht in der Oberstufe im Gegensatz zur weitläufigen Meinung keine Zeitverschwendung ist, im Gegenteil ist es vielleicht das Fach, bei dem die Schüler am meisten für ihr Leben mitnehmen können. Wenn sie wollen. WENN sie wollen. Wenn SIE wollen. Wenn sie WOLLEN. (Meistens wollen sie es nicht.) Der Deutschunterricht ist eine Einladung, eine Möglichkeit, eine Chance. Man muss nicht alles mögen, was man liest, ich persönlich habe bei Iphigenie auf Tauris beschlossen, dass es das beste Beispiel dafür ist, dass sich auch ein Genie wie Goethe mal vertun kann, aber man sollte über die Bücher nachdenken und reflektieren, erst dann kann man sagen, dass man wirklich verstanden hat, worum es geht.
Dennoch gibt es eine Sache, die ich an der jetzigen Situation scharf kritisiere, und die ist die meiner Meinung nach falsche Benennung. Ich plädiere dafür, dass man Deutsch in der Oberstufe als „Deutsche Literatur“ und Deutsch in den anderen Jahrgängen als „Deutsche Sprache“ bezeichnen sollte. Schließlich bin ich zwar gut in Deutscher Literatur, aber meine Kommasetzung ist sehr innovativ. Oder interessant. Manche sagen auch experimentell. (Aber die meisten sagen, sie ist falsch.) Ich kann hier alle Leser beruhigen, die auch langjährige Anklageverfahren wegen wiederholtem Missbrauch von Zeichensetzungsregeln gegen sich laufen haben: Man kommt trotzdem durch. Und noch ein letzter Tipp an diejenigen, die der festen Überzeugung sind, dass sie Lektüren, wenn überhaupt als teurere Brennanzünder verwenden werden (sind nicht so gut wie man denken würde). Lest Faust. Ihr könnt jedes andere Buch überspringen, aber wenn man Faust allein liest, reicht das mit ein bisschen Improvisationstalent für die komplette Oberstufe. Und wenn schon nicht dafür, dann für die Story, die einmal mehr unter Beweis stellt, dass manchmal Literatur unfassbar unterhaltsame und abgedrehte Geschichten bereithält. Wenn man bereit ist sie zu lesen natürlich.
Von Stefan Wallner