Interview
„Menschlichkeit ist das Wichtigste im Umgang mit Kindern und Jugendlichen aus einem ärmeren Land.“
Für viele ist direkt nach dem Abi nicht klar, wie es berufstechnisch weitergehen soll. Die Möglichkeit, in ein anderes Land zu reisen, um dort neue Erfahrungen zu sammeln, erscheint den meisten jedoch wie ein unrealistisches Wunschdenken. Dass das Abenteuer Ausland aber weniger abwegig ist als gedacht, zeigt das Beispiel von Hannah Wastlhuber. Hannah reiste Anfang des Jahres nach Bolivien und erzählt hier, was sie dabei erlebt hat.
Die ehemalige JHG-Schülerin Hannah Wastlhuber, die 2019 ihr Abitur absolvierte, verbrachte im Frühjahr 2020 zwei Monate in El Alto, Bolivien. Dort packte sie in einem sozialen Projekt mit an und konnte nicht nur Neues vermitteln, sondern auch Neues erleben. Wie es ihr erging und ob der Trip empfehlenswert ist, lest ihr im folgenden Interview.
Hannah, wann warst du in Bolivien?
Da gibt es zwei Versionen: wie lange ich da sein wollte und wie lange ich dann im Endeffekt dort war. In Bolivien war ich von Mitte Januar bis Mitte März 2020. Ich wollte aber eigentlich von Anfang Dezember 2019 bis Mitte Juni dort bleiben, es gab dann allerdings politische Unruhe in Bolivien, weshalb ich meinen Flug verschieben musste. Am 12. Januar 2020 ging es dann endlich los. Wegen Corona musste ich allerdings früher heim, darum habe ich mich am 18. März mit einem der letzten Flüge, die vor dem Lockdown noch nach Europa gingen, über Brasilien auf den Weg nach Hause gemacht. Zu dieser Zeit wurden auch in Bolivien bereits zahlreiche öffentliche Einrichtungen geschlossen.
Wie bist du auf Bolivien gekommen?
Wieso ich in Bolivien war ... das ist eine gute Frage. Ich wollte das Jahr nach dem Abitur für einen längeren Auslandsaufenthalt nutzen, bei dem ich nicht nur für mich selbst etwas tat, sondern bei dem ich auch in einem Projekt mitarbeiten konnte, damit andere etwas davon haben. Gleichzeitig wollte ich auch eine neue Kultur kennenlernen. Warum es dann ausgerechnet Bolivien wurde, kann ich nicht sagen, das war eher ein Bauchgefühl. Ich habe schon mehrere Leute davon schwärmen gehört, das hat mich dann irgendwie angesteckt.
Was war das für ein Projekt, an dem du teilgenommen hast?
Das Projekt war die „Fundacio´n Communidad Educativa Wiphala“, ein Kinder- und Jugendprojekt in El Alto. Diese Stadt liegt auf dem Hochplateau über La Paz, einer der größten Städte Boliviens und der Regierungssitz. In La Paz wohnen tendenziell wohlhabendere Menschen, nach El Alto ziehen immer mehr Menschen vom Land, deshalb ist das eine der ärmeren Gegenden. Und dort hat Monika Stöckl, ursprünglich aus Altenmarkt, dieses Projekt aufgebaut, das auch von unserer Pfarrei unterstützt wird.
Die „Fundación Wiphala“ kann man sich als eine Art Nachmittagsbetreuung mit zusätzlichem Bildungsangebot vorstellen. Das Konzept ist für Kinder und Jugendliche, die bereits arbeiten müssen, erstellt worden. Die Altersgruppen schwanken zwischen sechs und zweiundzwanzig Jahren, wobei die Ältesten schon studieren. Allen Kindern soll ein Ort geboten werden, zu dem sie nach der Schule gehen können, an dem sie günstig etwas zu essen bekommen, mit Freunden spielen und ihre Hausaufgaben machen können. Auf diesem Weg sollen sie sowohl lernen, Verantwortung zu übernehmen als auch in einer Gemeinschaft zu leben. Dabei werden sie von den „Educadores“ (dt. Pädagogen) begleitet. Zum Abschluss wird jeden Tag gemeinsam Tee getrunken und gegen 19 Uhr gehen die Kinder zu ihren Eltern nach Hause.
Warum ist ein derartiges Projekt in El Alto besonders wichtig?
Der Grund dafür ist, dass es in El Alto viele Kinder gibt, die auf der Straße arbeiten müssen, um ihre Eltern zu unterstützen und denen soll in dieser Einrichtung ein sicheres Umfeld geboten werden. Gleichzeitig sollen ihnen aber auch Werte und eine gewisse Bildung vermittelt werden, damit sie verstehen, wie wichtig es ist, Bildung zu erfahren und nach dem Schulabschluss zum Beispiel zu studieren, um nicht wie ihre Eltern an der Armutsgrenze leben zu müssen.
Worin bestand deine Aufgabe innerhalb dieses Projekts?
Der Tag verlief immer nach einem festen Ablauf. Meine Aufgabe bestand darin, ab 11Uhr inhaltliches vorzubereiten. Um 13 Uhr ging es los, da kamen die ersten Kinder und Jugendlichen zum Mittag essen. Dann wurde Zähne geputzen und anschließend das Haus gesäubert. Danach wurden die Hausaufgaben gemacht, gespielt und abschließend gab es Tee. Das Ganze dauerte immer bis ca. 18 Uhr 30. Und als meine Kollegin Lea und ich schließlich anfingen, ein Video über das Projekt zu planen, mussten wir coronabedingt auch schon wieder nach Hause. Wir hatten ursprünglich vor, mit den Kindern und Jugendlichen Instrumente zu basteln und ich wollte Musik-Workshops anbieten. Uns freiwilligen Mitarbeitern*innen war es erlaubt, sich Spiele und Workshops auszudenken oder das Essen (für umgerechnet dreißig Cent!) zu verkaufen, darauf zu achten, dass alle Kinder aufessen, ihnen Aufgaben zu geben und auch ein Vorbild zu sein und zu helfen.
Es gibt neben diesem Kinder- und Jugendprojekt auch noch ein Strickprojekt für ältere Frauen, die Produkte für eine Firma in der Nähe herstellen. Da dürfen die freiwilligen Helferinnen und Helfer dann auch mit den Produkten für einen Katalog, über den die Sachen verkauft werden, modeln.
Das hört sich nach sehr viel Verantwortung an. Welcher Persönlichkeitstyp sollte man deiner Meinung nach sein, um an diesem Projekt teilzunehmen?
Ja, das Ganze ist wirklich mit viel Verantwortung und auch Arbeit verbunden. Man muss sich wirklich reinhängen, damit die Sache etwas wird. Es ist auch allgemein eine Herausforderung, da das Projekt auf viel Eigeninitiative basiert, hinzukommt die fremde Sprache, die die Arbeit und das Leben dort nicht leichter macht.
Und zu der Frage bezüglich der Kenntnisse und Eigenschaften: man braucht auf jeden Fall grundlegende Spanischkenntnisse, denn man kann den Kindern und Jugendlichen nur wirklich gerecht werden, wenn man sie auch versteht, man mit ihnen reden kann und man sich nicht nur hilflos mit Händen und Füßen zu verständigen versucht. Denn wenn man sie nicht versteht, wird man dort auch schnell von den Kindern veräppelt. Ich persönlich bin beispielsweise auch in Deutschland in einem Jugendverband tätig und habe da auch Gruppenleiterkurse belegt, dadurch kenne ich zum Beispiel viele unterschiedliche Spiele. Ich selbst mache auch viel Musik und habe deshalb Ahnung von Rhythmik. Das sind alles Kenntnisse, die man haben kann, aber nicht muss. Es ist einfach grundsätzlich gut, wenn man seine eigenen Fähigkeiten mit einbringen kann, denn das macht die Sache spannend. Somit ist es natürlich von Vorteil, wenn man motiviert ist, man sich gern selbst einbringt und man auch kreativ ist - man sollte einfach Lust auf das Projekt haben und darauf, mit fremden Leuten zusammen zu arbeiten!
Ich würde insgesamt sagen, dass man vorteilhafte Eigenschaften nicht pauschalisieren kann, ich habe zum Beispiel einen Freund, der eher ein ruhiger Mensch ist und auch ihm hat ein Projekt in Bolivien sehr gut gefallen. Das Wichtigste ist, dass man den Teilnehmern dort vermittelt, dass man an ihnen interessiert ist und Lust hat, sie und ihre Kultur kennenzulernen, ohne dabei überheblich rüberzukommen wie ein typisch westlicher Mensch, der genug Geld hat und jetzt ein halbes Jahr auf Reisen gehen kann, um Spaß zu haben. Ich denke Menschlichkeit ist das Wichtigste im Umgang mit Kindern und Jugendlichen aus einem ärmeren Land.
Wenn du nun an die Zeit in Bolivien zurückdenkst, was war dein schönstes Erlebnis dort?
Puh, die Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Also meine Kollegin und Freundin Lea war schon seit September in dem Projekt und sie hatte angefangen, bei einer Tanzgruppe mitzumachen, denn in Bolivien gibt es viele verschiedene traditionelle Tänze. Ich bin dann auch durch sie in die Tanzgruppe eingestiegen. Am Ende haben wir gemeinsam als Gruppe beim Karneval mitgetanzt und das war schon ein großartiges Erlebnis. Wir haben dort einfach zwei Tage durchgetanzt. Im Gegensatz zum Fasching hier bei uns ist das schon ein viel größeres Event. Man feiert das ganze Wochenende und die Tanzgruppen ziehen durch die Straßen. Wir waren dafür in Oruro, da findet der größte Karneval der Gegend statt. Wir sind dort mehrere Stunden lang mit der Tanzgruppe in der traditionellen Tracht durch die Stadt gezogen. Man kann sich das Ganze wie den Karneval von Rio vorstellen und da ein Teil der Veranstaltung zu sein, nicht nur vom Rand zuzuschauen, sondern mittendrin zu sein, ist schon etwas ganz Besonderes.
Und ein weiteres sehr schönes Erlebnis, das mir einfällt, war der Umstand, nach und nach die Menschen dort kennenzulernen und zu merken, dass man dort mit der Zeit so etwas wie eine zweite Heimat gefunden hat. Auch wenn es anfangs für mich nicht leicht war, denn ich hatte wirklich Heimweh. Aber meine Gastfamilie war einfach toll. Wir haben uns dann abends nach der Arbeit immer zusammengesetzt und geredet, das war sehr lustig und eine schöne Erfahrung, bei einer anderen Familie so freundlich aufgenommen zu werden. Lea kennenzulernen war auch besonders, weil wir uns in den zwei Monaten wirklich angefreundet haben. Es ist etwas anderes, ob man sich hier in Deutschland zum Beispiel beim Studium kennenlernt oder in einem fremden Land, wo einen viel mehr verbindet, dadurch, dass man gemeinsam in einer Ausnahmesituation ist. Dann tut es richtig gut, jemanden zu haben, mit dem man sich auf Deutsch über alles unterhalten kann.
War es für dich einfach (trotz möglicher Sprachbarrieren), neue Leute kennenzulernen?
Für mich persönlich war es einfach, neue Leute kennenzulernen, aber ich denke, dass das vor allem daran lag, dass meine Kollegin Lea, die bereits seit September dort war, schon viele Leute kannte. Sie und ihr Freund konnten mich deswegen sowohl Deutschen als auch Bolivianern vorstellen. Das hat mir sehr geholfen. Ich war außerdem ja auch von Anfang an in einer Gastfamilie und deshalb nie allein. Sie haben mich auch immer überall hin mitgenommen. Und eine meiner Gastschwestern hat selbst in einem Projekt gearbeitet, somit hatte ich schon neue Connections. Ich konnte mich zu Beginn mit den meisten bereits auf Spanisch unterhalten, wobei meine einfachen Spanischkenntnisse die Sache schon manchmal erschwert haben, denn ich konnte nicht immer sagen, was ich wollte. Das ging mit der Zeit aber auch immer besser.
Ich kann zwar nicht sagen, wie es gewesen wäre, dort allein zu sein, aber ich hatte nie das Gefühl, niemanden finden zu können, mit dem man sich unterhalten kann, da die Bolivianer allgemein sehr aufgeschlossen und interessiert an unserer Kultur sind.
Wie geht es jetzt beruflich für dich weiter? Hat dir der Aufenthalt in Bolivien geholfen, eine Entscheidung zu fällen?
Beruflich geht es so für mich weiter, dass ich jetzt ein zweijähriges Volontariat an einer Journalistenschule in München machen werde. Bolivien hat mir dabei nicht direkt geholfen, obwohl ich mir vorgenommen hatte, mir dort Gedanken zu machen, was ich ab Herbst 2020 machen möchte. Ursprünglich war mein Plan auch, zu studieren, aber dann hat meine Mutter die Ausschreibung für das Volontariat gesehen und mir diese nach Bolivien geschickt. Somit hat Bolivien insofern indirekt mit der Entscheidung zu tun, als dass ich die Bewerbung dort geschrieben und versendet habe. Direkten Einfluss hatte es aber wie gesagt nicht.
Vielen Dank liebe Hannah für das ausführliche Interview und noch viel Erfolg und Glück auf deinem weiteren Weg.
Von Laura Müller
Link zum Projekt: https://www.studiosus-foundation.org/Unsere-Projekte/Soziale-Projekte/Bolivien-El-Alto