Essay
Sehnsucht/ Antrieb/ Werkzeug/ Kontrolle
Sehnsucht. Ein beliebtes Motiv in der Romantik. Wer hat nicht schon einmal ein lyrisches Werk von Eichendorff verzweifelt nach den Aspekten dieses Gefühls untersucht? Doch auch Stefan Wallner aus dem Abiturjahrgang 2019/2020 hat in seinem Essay einiges über die Sehnsucht zu sagen. Wie meistert er mit Stahlmann und Schattenmann seine Vorbereitungen auf das Deutschabitur und was hat die Sehnsucht damit zu tun?
Mittwoch, 13. Mai, 12:44 Uhr. 7 Tage bis zum Deutschabitur. Einsendeschluss der Übungsaufsätze am Freitag, 15. Mai, noch 2 Tage.
Ich stelle mein halbfertig gegessenes Risotto weg und wende meine Aufmerksamkeit dem Bildschirm zu. Neben mir eine Stoffsammlung (könnte auch moderne Kunst sein), Wasser (wer nicht genug trinkt erleidet signifikante Leistungsschwächen), eine Tasse Tee („Buntfink clear focus“ - soll die Konzentration steigern) und ein Zeitplan für die kommenden Tage (alles unter 4 Stunden Lernzeit ist inakzeptabel, besser sind 6-7). Die Bühne ist bereit, Zeit loszulegen.
Ich drehe die Musik lauter - ich entschuldige mich an dieser Stelle bei allen Menschen, die während Prüfungsphasen mit mir in einem Haus leben müssen - und springe einen Song vor.
„Kinder der Sehnsucht - Stahlmann“
Kinder der Sehnsucht, sind wir das? Bestehen wir tatsächlich nur aus Sehnsucht, die der Beginn von allem ist, wie Nelly Sachs behauptet?
Ich beginne nachzudenken, was ist meine Sehnsucht? Was treibt mich? Was ist gerade mein Motiv für all meine Handlungen?
Ein gutes Abitur wie es aussieht. Dass meine Lernvorbereitungen nichts mehr mit einem gesunden Lebensstil zu tun haben, ist mir inzwischen bewusst und spätestens die Tatsache, dass ich mit einem Eimer neben dem Bett schlafe, weil ich bei zu viel Stress an Übelkeit leide, sollte alles darüber aussagen.
Werde ich deswegen aufhören? Nein.
Weil ich Sehnsucht habe, Sehnsucht nach einem guten Abitur, Sehnsucht nach einer guten Leistung, Sehnsucht nach einer guten Bewertung, Sehnsucht nach dem, was mir gesagt wurde, worauf es im Leben ankommt. Leistungs-(sehn)sucht sozusagen.
Viele Menschen streben nach Leistung, man strebt danach, ein besserer Mensch zu sein als man davor war.
Man strebt nach besseren Noten, nach einem bestandenen Staatsexamen, nach einem guten Beruf. Aber warum eigentlich? Macht einen das Ganze glücklich? - Nein, macht es nicht.
Aber es macht die Gesellschaft glücklich, sie strebt nach immer mehr Leistung der einzelnen Mitglieder, sie ignoriert Wünsche und Bedürfnisse des Einzelnen und weckt in uns eine Hoffnung. Die Hoffnung darauf, etwas Besonderes zu sein, der Schönste, Klügste, Größte, Beste - ein Ding der Unmöglichkeit, weil sich Menschen nicht so leicht kategorisieren lassen, aber es reicht, um in uns die Sehnsucht zu wecken.
Der Strebende ist hier nur eine Spielfigur, der sich dem Gesamtwillen fügen muss und was nicht passt, wird passend gemacht. Wer es nicht schafft, so zu sein, wie die Gesellschaft ihn will, der wird so lange und so oft gebrochen, bis er so ist, wie die Gesellschaft ihn will.
Man stelle sich nur vor, jemand würde ein neues Menschenbild fordern, unabhängig von den dogmatischen Normen und Regeln der Gesellschaft, ein Mensch der seiner reinen Natur nachgeht, quasi ein Übermensch. Aber so ein Gedankengang ist dann schon etwas sehr weit hergeholt, nicht wahr?
Ist das alles, was von Sehnsucht bleibt?
Ein Mittel, das die Gesellschaft nutzt, um ihre Mitglieder zu kontrollieren?
Nein, Sehnsucht ist prinzipiell alles, was ein Mensch zu „sehn“ sucht.
Und wenn wir eins von Menschen wissen, dann, dass man immer etwas Leichtes und Klares sucht, etwas, was man nicht hinterfragen muss. Im Idealfall etwas, bei dem man selbst in einer überlegenen und herausragenden Position ist, ohne echt etwas dafür tun zu müssen.
Es ist die Sehnsucht nach dem einfachen Schwarz-Weißen, das Menschen so kontrollierbar und manipulierbar macht. Denn Sehnsucht kann den Menschen nahezu grenzenlos kontrollierbar machen.
Man erkennt diese Sehnsucht schon an ganz kleinen und alltäglichen Dingen, die täglichen Nachrichten der USA sind ein gutes Beispiel.
Je nachdem, welchem Blatt man Glauben schenkt, sind entweder die Kommunisten oder die Nazis schuld. Entschuldigung, die Demokraten oder Republikaner. Die andere Seite ist prinzipiell falsch und stellt Fakten falsch dar. Ihre Meinungen sind falsch und ihre News sind fake. Man selbst ist immer im Recht und die vorherrschende Meinung ist nicht zu hinterfragen.
Aber man kann ja auch mal weggehen von der Innenpolitik, das ist so anstrengend und am Ende hat man immer so seltsame Diskussionen mit seinem Nachbarn. Man sollte einfach als Grundsatz des nationalen Selbstverständnisses nehmen, das man selbst einfach der Beste ist und man selbst eine gute Gesellschaft und ich wünschte, ich wäre gerade ironisch.
Man könnte ja schon fast so weit gehen, einen fiktionalen Charakter nach dem eigenen Land zu benennen, am besten noch mit General oder Captain davor und dieser Charakter rettet dann das Universum, mit seiner Waffe, auf der die Nationalflagge prangt, aber das wäre schon etwas übertrieben, wer würde denn so etwas machen?
Aber es ist verständlich, wir alle wollen doch eigentlich nur, dass es uns gut geht.
Es soll einfach irgendjemand kommen und der sagt dann, was zu tun ist und wenn wir das machen, dann ist alles gut. Aber kein Mensch. Denn Menschen sind ja bekanntlich langweilig und außerdem ist es ja ziemlich arrogant von einem Menschen, zu wissen, was Menschen wollen.
Es muss also ein Gott sein, im Idealfall allmächtig und allwissend und eine von Grund auf gute Person, die alles erschaffen hat und jetzt allen sagen kann, wie sie sich richtig verhalten.
Es ist die Sehnsucht danach, dass alles gut ist, Das wir einfach nur glauben müssen und dann ist alles gut. Alles ist gut.
Es wäre unfair, Religion nur darauf zu reduzieren, aber was das Thema Sehnsucht angeht, ist sie definitiv ganz vorne dabei.
Sie bringt den Menschen nicht nur Sehnsucht, sie bringt etwas viel Stärkeres, sie bringt Hoffnung - gewissermaßen die SehnsuchtPlus.
Hoffnung lässt Menschen Erstaunliches ausstehen, Krisen und Plagen sind bedeutungslos, wenn an der Zielgeraden das Paradies winkt (inklusive gesegnetem Champagner auf dem Siegertreppchen). Es ist die Sehnsucht nach dem Paradies, die viele Menschen weitermachen lässt, aber auch die Sehnsucht nach dem Größeren, danach, dass da schon jemand ist, der es richtet, wenn es gerade sein muss.
Und danach Teil von diesem Größeren zu sein, nicht nur eine Zusammenhäufung von Atomen zu sein, sondern etwas ganz Besonderes zu sein, bei dem man sich nicht weiter hinterfragen muss. Es ist eine klare und leichte Welt, in der man dann lebt. Aber auch eine Welt der Angst, Angst vor dem was da ist, wenn man es nicht in den Himmel schafft, dem was da ist, wenn der große Mann da oben böse ist.
Angst ist die Umkehrung von Sehnsucht, es ist das, bei dem man Sehnsucht hat, dass es nicht da ist. In gewisser Maße die SehnsuchtMinus.
Angst gehört zu Sehnsucht wie die Hoffnung und Angst ist als Druckmittel mindestens genauso gut verwendbar.
Man hat prinzipiell immer Angst vor dem Unbekannten und man stelle sich nur vor, dass derjenige, der einem gestern noch sagte, wer gut betet, der komme in den Himmel, einem nun weismacht, dass man im Fegefeuer brennen wird. Für alle Zeiten, für immer, wo wie für eine begrenzte Zeit, nur andersrum.
Das ist jetzt natürlich ungünstig.
Aber einen Moment!
„Wenn Sie jetzt 20 Taler bezahlen bekommt man das Ultrasuperprodukt, Paradies ohne Fragen! Wer jetzt nicht zuschlägt ist selbst schuld! Für 35 Taler gibt es dazu noch das Familienabo!“
Die Geschichte hat gezeigt, dass die Sehnsucht nach materiellem Wert die Sehnsucht nach der Durchsetzung der eigenen Wertvorstellung schlägt.
Bei der Kontrolle, die diverse Kirchen in früheren Zeiten hatten, könnte man sie schon fast als eine Droge für das Volk bezeichnen, wie beispielsweise Opium, aber wer würde das denn tun?
Religion ist aber gar nicht das Opium des Volkes, Opium ist das Opium des Volkes.
Drogenkonsum, Drogenmissbrauch, Kulturgut. Der Unterschied zwischen Drogenmissbrauch und Kulturgut liegt in der Gesetzeslage des Landes. Drogen sind schon so alt wie die Menschheit selbst, sie haben uns schon immer begleitet und seit der Entdeckung davon, dass Haie sich mit Kugelfischen zuballern, wissen wir auch, dass es ein Stück weit in der Natur liegt, berauschende und bewusstseinserweiternde Stoffe zu sich zu nehmen.
Aber wieso machen das die Menschen überhaupt, feiern bis zum Umfallen und alle möglichen Drogen nehmen?
Ist es der Spaß? Zum Teil.
Ist es die Gemeinschaft? Bei gemeinschaftlichem Drogenkonsum geht es sicherlich auch um das soziale Ritual an sich.
Sind das Begründungen für 4,3 Millionen Tabakabhängige (Wisst ihr eigentlich, wie viele Arbeitsplätze und Steuergelder von der Tabakindustrie abhängen?), 1,7 Millionen Alkoholabhängige (Das gehört zum Kulturgut!), 1,4 Millionen Medikamentenabhängige (Irgendwie müssen sich die Pharmakonzerne ja finanzieren, außerdem ist jeder selbst verantwortlich.) und 415.000 Abhängige von illegalen Drogen (Eine Schande ist das! Die gehören alle eingesperrt, diese Kriminellen!).
Nein.
Aber es ist die Sehnsucht nach der Flucht aus dem Alltag, die sie antreibt, die Flucht aus dem alltäglichen, grauen, trüben Alltag. Die Sehnsucht nach einer Welt, in der man nicht von seiner Freundin verlassen wurde, in der man keine Geldschulden hat, in der die vorherrschende Leistungsgesellschaft die eigenen Ziele und Träume nicht vernichtet hat, in der man nicht Angst vor allem und der Welt haben muss, eine Welt, in der die eigenen Familie kein brennendes Schlachtfeld ist.
Es ist eine Flucht, eine bessere Welt, in der alles andere egal ist, nur man selbst und die Droge.
Sonst nichts.
Sehnsucht ist also das, was man zu „sehn“ sucht.
Man sucht immer etwas Großes und dann etwas Kleines, mit dem man das Große erreichen kann. Man will Anerkennung, dann will man Leistung, dann will man gute Noten.
Man will Sicherheit nach dem Tod, dann will man das Paradies und viele wollen ein religiöses und korrektes Leben führen.
Man will ein besseres Leben, dann will man aus dem eigenen Leben fliehen und viele wollen dazu Heroin und dann will man es wieder und wieder und wieder und wieder.
Das, was man zu „sehn“ sucht, verändert sich auch mit der Zeit und den Umständen.
Als 15-jähriger Jugendlicher will man als älter wahrgenommen werden, mit 50 ist es ein Kompliment, wenn man auf 40 geschätzt wird.
Der Mensch wollte das Meer erobern, dann wollte er den Himmel erobern und dann wollt er das Weltall erobern.
Also sitze ich wieder hier.
Im Moment habe ich einfach nur Sehnsucht danach, ein gutes Abi zu schreiben und einen Studienplatz zu erhalten. Weiter denke ich noch nicht.
Vielleicht habe ich dann Sehnsucht nach einem Vorstadthaus mit Garten (ein Penthouse in einer größeren Stadt, eine viktorianische Villa mit Waldstück im nördlichen Teil von Wales und ein wenig abseits von der Zivilisation, aber immer noch mit guter Anbindung) und dazu eine kleine Familie.
Wer weiß das schon?
Ich weiß, dass mich die Gesellschaft mit meiner Sehnsucht unter Kontrolle hat und ich weiß, dass ich mich darum kümmern muss. Aber kann man vor der Gesellschaft jemals weglaufen?
Es ist inzwischen 14:37 Uhr. Immer noch 7 Tage bis zum Deutschabitur. Zu meinem Arsenal an Hilfsmitteln hat sich eine leere Tasse Kaffee gestellt. „Epidemie“ von Schattenmann hallt durch den Raum. Seufzend werfe ich einen Blick auf mein Handy. Ich sollte noch einen Übungsaufsatz schreiben.
Von Stefan Wallner